Mitglieder des Beirats der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin befragen Johannes S. Wrobel nach seinem Referat am 19. Juli 2001

Grundlage. Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin, Stiftungssatzung, § 8, Abs. 3: „Der Beirat berät das Kuratorium und den Vorstand bei grundsätzlichen Fragen, insbesondere im Hinblick auf die Würdigung der anderen Opfergruppen und die authentischen Stätten des Gedenkens.“

Vom Beirat (14 ehrenamtliche Mitglieder) waren folgende Personen anwesend:

  1. Professor Dr. Wolfgang Benz (Beiratssprecher; Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung, TU Berlin)

  2. Professor Dr. Horst Möller (Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, München)

  3. Dr. Norbert Kampe (Direktor der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz)

  4. Professor Dr. Bernd Faulenbach, Bochum (Vorsitzender der Fachkommission Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten; Vorsitzender der Historischen Kommission der SPD)

  5. Professor Dr. Manfred Messerschmidt, Freiburg (Bundesverband Opfer der NS-Militärjustiz e.V.)

  6. Jörg Skriebeleit M.A. (Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg)

  7. Irmgard Konrad (Interessenverband der Verfolgten des Naziregimes)

  8. Dr. Adam König (Internationales Auschwitz Komitee)

  9. Professor Dr. Waclaw Dlugoborski (Kurator für Forschungsfragen Gedenkstätte Auschwitz; Vorsitzender des Internationalen Museumsrates der Gedenkstätte Auschwitz)

  10. Ebenfalls anwesend: Frau Professor Dr. Sibylle Quack (Leiterin aller Bereiche der Geschäftsstelle der Stiftung Denkmal)

  11. Eva Brücker (wissenschaftliche Mitarbeiterin der Geschäftsstelle)

Nicht anwesend waren: Professor Max Bächer (Architekt, Hochschullehrer), Günter Dworek, Sonja Lahnstein-Kandel (Jugendinitiative), Dr. Dr. h.c. Hanna-Renate Laurien (Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.), Elvira Manthey (Bund der Euthanasie-Geschädigten), Dr. Hans-Jochen Vogel (Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie e.V.).

Die Wortmeldungen wurden gesammelt und dann auf einmal beantwortet (hier jeweils den Personen zugeordnet):

Professor Waclaw Dlugoborski (Polen) gab zu bedenken, daß die Häftlingsgruppe im internationalen Kontext behandelt werden sollte. So gab es in Auschwitz viele Zeugen Jehovas.

Antwort: Dieser Aspekt ist wichtig. Es gab neben den genannten 2 600 deutschen KZ-Häftlingen noch rund 1 400 inhaftierte Zeugen Jehovas (ZJ), die aus dem [heutigen] Ausland kamen, wozu rund 500 Österreicher, 500 Holländer, etwa 70 Franzosen (mit Elsässern) gehören; einige Hundert Polen – die Zahlen steigen praktisch monatlich, seitdem das Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas in Polen vor kurzem die Arbeit aufgenommen hat. Da viele dieser ausländischen ZJ in Deutschland deportiert waren, wird ihre Geschichte bei der Aufarbeitung mit einbezogen.

Irmgard Konrad äußerte sich lobend über die Zeuginnen Jehovas, deren Standhaftigkeit und Mut sie als ehemaliger Häftling in Auschwitz und Ravensbrück miterlebt hatte. Sie erzählte, wie die Zeuginnen ohne Aufsicht das Lagertor passieren durften, um in der SS-Siedlung zu arbeiten. Die SS vertraute ihnen, da sie keinen Fluchtversuch unternehmen würden. Es belastete die politischen Häftlinge, daß die „Extremen“ unter den Zeuginnen nicht zum Appell erschienen, weil sie das als militärische Übung ansahen, und die anderen Häftlinge litten darunter.

Antwort: Dank für die positive Erwähnung der Häftligsgruppe, die der realen Wahrnehmung vieler Mithäftlinge entspricht. Relativ spät, ab 1942/1943, erhielten ZJ in Ravensbrück solche Zuteilungen in SS-Haushalten. Bei den anderen Beobachtungen, wie Sie selbst sagten, handelte es sich um „Extreme“, also nicht um ein Verhalten, das der Regel entsprach. Es zeigt, daß es unter Zeugen Jehovas zu unterschiedlichen individuellen Gewissensentscheidungen kommen konnte, sie also nicht von einer Zentrale in Brooklyn „ferngelenkt“ waren.

Professor Manfred Messerschmidt bemerkte, daß über 20 % der Todesurteile von Wehrdienstverweigerern im NS-Regime auf ZJ fallen. Heinrich Himmler hatte die Idee geäußert, die positiven Eigenschaften der ZJ auszunutzen und sie zur Befriedung der Bevölkerung in den Ostgebieten einzusetzen.

Antwort: Die Zahlen der hingerichteten Wehrdienstverweigerer hat sich inzwischen leicht erhöht, die Gesamtzahl der Hingerichteten sogar erheblich erhöht. Himmler hatte den finnischen Arzt Dr. Felix Kersten als Leibarzt, der auf seinem Gut Hartzwalde ZJ als Sklavenarbeiter beschäftigte und von ihnen über die Zustände in den Lagern erfuhr. Kersten und seine Frau nutzten ihren Einfluß auf Himmler aus, um ihn auf ihre Art von den „Vorteilen“ der Einsetzung der Bibelforscher in SS-Lebensbornheimen usw. zu überzeugen. Heinrich Himmler wies 1943 an, den ZJ „bessere“ Arbeitszuteilungen zu geben (die Dokumente darüber sind in dem neuen Buch von Hesse/Harder abgebildet), was nicht bedeutete, daß es für einen ZJ weniger „lebensgefährlich“ war, ein KZ-Häftling zu sein.

Dr. Norbert Kampe fragte, ob Jehovas Zeugen einen bestimmten Ort als zentralen Gedenkort ansehen würden und wie sie selbst zu einem zentralen Denkmal stehen. Welches Rolle spielt das Erinnerung oder Gedenken bei Ihnen? Es spielte doch in den letzten 20 Jahren keine Rolle bei Ihnen?

Antwort: Wie bei den anderen Opfergruppen, so fand die Verfolgung der ZJ an vielen verschiedenen Orten statt, so daß man keinen bestimmten Ort als „zentralen“ Ort benennen könnte. Jehovas Zeugen fordern weder ein Denkmal für ihre NS-Opfer, noch bitten sie darum. Wenn ein Denkmal in Berlin angeboten werden würde, dann könnte die Religionsgemeinschaft darüber nachdenken oder man könnte darüber mit dem Präsidium reden. Vom theologischen, biblischen Standpunkt aus gesehen haben Jehovas Zeugen (JZ) prinzipiell nichts gegen ein Denkmal einzuwenden (die Bibel erwähnt z.B. Steinhaufen, die errichtet wurden, um an etwas Bestimmtes zu erinnern), wenn damit keine Zeremonien verbunden sind (JZ lehnen die Totenverehrung ab; so haben Schweigeminuten und gewisse Kranzniederlegungen bei Gedenkveranstal­tungen bewirkt, daß sich ZJ nicht daran beteiligen wollten). Wenn eine Angelegenheit „politisch“ wird oder es zu „Streit“ kommt, ziehen sich JZ zurück. [Zustim­mendes, verstehendes Nicken von Prof. Quack.] Wenn Sie ein „Denkmal“ anbieten würden, dann könnten JZ darüber nachdenken. Wir sind jedoch zufrieden, wenn JZ in Ihrem „Programm der Erinnerung“ eine angemessene Berücksichtigung finden würden.

Gedenkarbeit bedeutet für uns vor allem Dokumentation. Wir haben in den letzten fünf Jahren viel für die Aufarbeitung dieses Teils unserer Geschichte durch das „Geschichtsarchiv“ und die Öffentlichkeitsarbeit getan. Warum in den letzten 20 Jahren insgesamt weniger dafür getan wurde, darüber ist bei anderer Gelegenheit schon viel gesagt und diskutiert worden. Grundsätzlich unterscheidet sich die Ent­wicklung hierbei nicht sehr von der bei anderen Opfergruppen, wie den Sinti und Roma. In der Nachkriegszeit, als revanchistische Bestrebungen im Mittelpunkt standen, schwiegen die betroffenen ZJ, weil sie „Rache“ aus biblischen Gründen ablehnen.

Professor Bernd Faulenbach kam auf die Würdigung der Opfergruppe in den Gedenkstätten zu sprechen. Wie ist der aktuelle Stand?

Antwort: Wie im Referat erwähnt, sind JZ in den Ausstellungen in Brandenburg-Görden (2 Geschichtstafeln), Ravensbrück (Gertrud Pötzinger in der Ausstellung „Ravensbrückerinnen“) und Sachsenhausen (1 ZJ) relativ gut repräsentiert (hinzu kommen dort der Gedenkstein und die Gedenktafel). Das sind eher die Ausnahmen, nicht die Regel. (In einer Info-Hülle für die Beiratsmitglieder war u.a. ein Faltblatt zu JZ von der Gedenkstätte Hannover-Ahlem beigelegt.) Insgesamt gesehen erhalten wir von den Gedenkstätten selbst relativ wenig Anfragen, dagegen von einzelnen Historikern recht viel Post. Für die Ausstellung „Christliche Frauen im Konzentrationslager“ wurde bei uns kurzfristig nach Bildmaterial angefragt, das dann aber nicht verwendet wurde (also ZJ nicht thematisiert wurden); dagegen liest man auf der Einführungstafel dieser Ausstellung, daß die Frauen der ZJ-Opfergruppe in einer späteren Ausstellung thematisiert werden sollen. Unsere Arbeit in Selters/Taunus ist projektgebunden. Sie gestaltete sich von Anfang an sehr zähflüssig, da wir viele Projekte im In- und Ausland unterstützt haben. Gleichzeitig dokumentieren wir die Verfolgung in der DDR. Wir sind jedoch im Rahmen unserer Möglichkeiten bereit, auf Anfrage Ausstellungen in den Gedenkstätten sowie die Dokumentation zu unterstützen.

Jörg Skriebeleit nahm auf die Änderung der Verfahrensweise in den Arbeitszuteilungen der KZ-Häftlinge mit dem „lila Winkel“ Bezug und steuerte aus seiner Arbeit in Flossenbürg einige Informationen dazu ein.

Professor Horst Möller vom Institut für Zeitgeschichte München berichtete, daß sein Haus das Standardwerk von Detlef Garbe publiziert hat und es kein Fachbuch dieser Art gibt, das bislang in einem vergleichbaren Zeitraum eine solch starke Auflage zu verzeichnen hatte. (Bei einem privaten Gespräch nahm er den Vorschlag an, mit einem ihm bekannten Taschenbuchverlag über die Herausgabe des Buches von Dr. Garbe als Taschenbuch zu verhandeln.) Das Buch habe damit dazu beigetragen, die Erinnerungsarbeit im allgemeinen und unter JZ zu fördern und die Verfolgung stärker ins Bewußtsein zu rücken.

Professor Wolfgang Benz brachte die Anhörung mit lobenden Worten zum Abschluß, wobei er hervorhob, daß die Opfergruppe der Zeugen Jehovas durch „ihre anerkennenswerte, eigene Arbeit“ dazu beigetragen hat, die Erinnerung und Würdigung zu fördern.

Zeitgleiches Gedächtnisprotokoll, Johannes S. Wrobel,
Geschichtsarchiv der Zeugen Jehovas, Selters/Taunus, Deutschland

[www.lilawinkel.de/1-talks/2000-2003/2001-berlin-stiftung/referat-berlin-stiftung.htm, abgerufen 2023]

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